Rund um Digitalisierungsprojekte im öffentlichen Sektor wird immer wieder der Ruf nach der „Souveränität des Staates“ laut. Dabei folgt die Verwendung keiner Linie: Mal ist es digitale Souveränität im Allgemeinen, mal Datensouveränität, mal Softwaresouveränität, im Zweifel vermischt mit dem Ruf nach „Open Source“. Eher vergessen scheint der Kern, wenn es um die Umsetzung geht: die Menschen in den Behörden. Sie sollten nicht nur selbstbestimmt mit den IT-Lösungen arbeiten, sondern sie auch gestalten. Damit stellen sie vor allem bei der Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes (OZG) einen großen Teil wirklicher Souveränität sicher – die Fachsouveränität. Das ELSTER-Team im Bayerischen Landesamt für Steuern (BayLfSt) macht es beispielhaft vor.

Die Souveränität der Verwaltung hängt operativ stark mit dem Management von Daten zusammen. Dafür erstellen Menschen die Definition der Datenfelder, Logiken und Bearbeitungsschritte. Es geht um nicht weniger als die Erfassung der gesamten Fachlichkeit. So wurden in der Vergangenheit Bürger- und Unternehmensanliegen verwaltet, so wird es auch in der digitalen Zukunft sein. Gerade weil aber die Digitalisierung etwa mit den Möglichkeiten der Abfragen, Validierungen und automatischen Berechnungen komplex ist, müssen Behörden operativ souverän arbeiten können. Auch und gerade bei OZG-Umsetzungen. Geprägt sind die Branchendiskussionen um eine digitale Souveränität aber vielfach von Fragen wie „welcher Softwareanbieter?“ und „wo liegen die Daten, wem gehören sie?“. Die Ziele sind ähnlich: weniger Abhängigkeit von einzelnen Anbietern und mehr Kontrolle über Daten.

Souveränität der Fachabteilung

Bei diesen Souveränitätsrufen ist aber fast nie die Rede von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Behörden. Dabei sind sie der Schlüssel zur unterschätzten Fachsouveränität: Indem die Fachleute selbst einen entscheidenden Teil der digitalen Anwendung bauen und weiterentwickeln. Modellbasierte Lösungen bieten dafür die Werkzeuge, oft auch assoziiert mit dem Begriff Low-Code-Plattformen.

Bei zukunftsfähigen Low-Code- Plattformen sind Modelle zentrale Bausteine. Sie sind die eigentliche Brücke zwischen der Software und den Gesetzen und Verordnungen, die hinter Fachverfahren stehen. Zum Vergleich: Menschen können die Gesetzestexte lesen, inhaltlich verstehen und danach handeln, Software und Computer können dies nicht. Sie brauchen Code. Dieser Code entsteht in herkömmlichen Projekten über Anforderungsdokumentationen für Entwickler, dem Programmieren sowie anschließenden Tests. Naturgemäß wiederholt sich dieser oft langwierige Prozess bei allen Änderungen. In der modellbasierten Entwicklung formulieren und artikulieren dagegen Fachanwender selbst Modelle, die direkt von Maschinen lesbar sind. So entfallen wesentliche wiederkehrende Entwicklungsaufwände – und die Abhängigkeit von zeitaufwändigen IT-Projekten sinkt.

Der Clou: Die fachlichen Expertinnen und Experten in den Behörden können mittels Datenmodellen flexibel und modular beide Seiten abbilden. Sowohl die Bearbeitungsmasken und der voll digitale, medienbruchfreie Workflow der eigenen Verwaltungssicht lassen sich so gestalten, als auch der digitale Antrag für die Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen. Dafür ist kein IT-Spezialwissen notwendig. Wer beispielweise intensiver mit den handelsüblichen Tabellenkalkulationen arbeitet, kann nach Schulungen ebenso Fachverfahren modellieren.

ELSTER: Millionen Codezeilen von Steuerexperten

Als Beispiel lohnt ein Blick auf ELSTER, den elektronischen Diensten der Steuerverwaltung, betrieben vom BayLfSt. Von rund 18 Millionen Zeilen Programmcode der ELSTER-Anwendungen stammen nur knapp über eine Million Zeilen von Softwareentwicklern. Über 16 Millionen Zeilen Code sind durch Modelle generiert. Und jedes Jahr modellieren die Steuerexpertinnen und -experten im BayLfSt die meist sehr umfangreichen und komplexen Änderungen der Steuergesetzgebung. Zudem müssen die Änderungen oft mit wenig Vorlauf in den Datenfeldern, den Regeln und Berechnungslogiken umgesetzt werden. Mit einem herkömmlichen Entwicklungsprozess wäre dies nicht möglich.

Souveränität per Low Code mit Zukunftssicherheit

Für den modellbasierten Ansatz gibt es kaum Grenzen. Neben Anträgen und den Fachverfahren aller Art ist der modellbasierte Ansatz für die Umsetzung von Registern prädestiniert. Fachexperten können Datenmodelle mithilfe spezieller Editoren selbst aufsetzen und pflegen und sie mit vordefinierten Design-Templates für Verwaltungs- und Bürger- bzw. Unternehmenssicht in Anwendungen bringen. Zudem müssen es nicht Formulare als Ausgangsbasis sein. Jede denkbare und vorhandene Eingabemaske, die Daten für Folgeschritte und Prozesse verarbeitet, ist auf diese Weise modellierbar.

Nebenbei zeichnet sich eine modellbasierte Softwareentwicklung durch Zukunftssicherheit aus: Die Modelle sind in vielen Kontexten wiederverwendbar, beispielsweise für die Entwicklung von automatisierten Tests, Chatbots sowie Sprachsteuerung und anderen Zukunftsanwendungen. Denkt man den modellbasierten Plattformansatz zudem in Richtung Netzwerk weiter, eröffnet sich außerdem die Chance für eine Community, in der die Teilnehmer grundlegende Modelle teilen und austauschen. Das ist digitale Souveränität – als Fachsouveränität.

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