Vom Underwriter zum IT-Dienstleister – Die Digitalisierungskolumne von Alexander Stolte.

Einer der spannendsten Aspekte der Digitalisierung im KMU-Segment der Industrieversicherung besteht darin, das Wissen der Underwriter in die digitalen Systeme zu bringen. Underwriter, die jahrzehntelang Risiken manuell beurteilt haben, begegnen der Idee erfahrungsgemäß mit Skepsis. Wie soll das funktionieren? Ich entscheide doch auf Basis meiner jahrelangen Erfahrung, ob ein Risiko versichert werden soll oder nicht.

Klar ist, dass der gesamte Erfahrungsschatz eines Underwriters, der täglich mit individuellen Risiken hantiert, nicht ad hoc vollständig in Software abgebildet werden kann. Ein Teil der Erfahrungen lässt sich aber gezielt formalisieren und in Form eines Regelsystems in die Software bringen. Für Standardrisiken im Mittelstandsgeschäft, die im Zentrum der Digitalisierungsbemühungen stehen, lassen sich damit erstaunliche Erfolge erzielen.

Den Ausgangspunkt bilden gemeinsame Gespräche und Analysen der Standardrisiken mit den Underwritern. Im Mittelpunkt steht die Frage: Wie reagierst du normalerweise, wenn dieser oder jener Fall eintritt? Es geht schließlich darum, Regeln aufzustellen, die in den meisten Fällen – sprich: „normalerweise“ – passen. Die Antworten sehen zum Beispiel so aus:

  • Normalerweise nehme ich bei diesem bestimmten Fall folgende Klauseln hinzu, um unser Risiko zu begrenzen.
  • Normalerweise setze ich einen Zuschlag von 5 oder 10 Prozent auf die Prämie, wenn der und der Umstand eingetreten ist.

Auch wenn man den Eindruck hat, dass Underwriter „Bauchentscheidungen“ treffen und Prämien willkürlich festlegen: Dem ist nicht so. Ein guter Underwriter folgt in der Risikobeurteilung einem festen Schema. Struktur in der Risikoerfassung und -beurteilung gibt dem Entscheider Sicherheit. Diese Strukturen offenzulegen und systemisch umzusetzen – darum geht es bei der Digitalisierung des Underwritings.

Diese impliziten Strukturen und Vorgehensweisen sind die Blaupause für ein explizites Regelsystem, auf dessen Grundlage die Software Entscheidungen trifft. Für einen Großteil der Fälle wird die Entscheidung durch das System dann mit der Entscheidung übereinstimmen, die ein Underwriter im konkreten Fall getroffen hätte. Doch was ist mit dem Rest? Wie sind diejenigen Fälle zu bewerten, bei denen das System anders entscheidet?

Hier hilft ein Blick auf die Ursachen, die den Underwriter dazu bringen, von seinem typischen Schema der Risikobewertung abzuweichen. In einigen Fällen besitzt er schlichtweg mehr Informationen. Mit einer entsprechenden Anpassung des Systems würde es wieder genauso wie der Underwriter entscheiden. In anderen Fällen ist ein Bauchgefühl des Underwriters – eine subjektive Eingebung – für die Abweichung verantwortlich. Genau dagegen ist das System resistent. Es bleibt stoisch bei seinen implementierten Strukturen und lässt sich nicht spontan durch subjektive Größen beeinflussen. Ich sehe das als großen Vorteil der algorithmischen Entscheidungsfindung, schon in der jetzigen Phase der Digitalisierung. Mehr noch: Wenn solchen Systemen künftig mehr und mehr Daten zur Verfügung stehen, können sie der menschlichen Risikobewertung im standardisierten KMU-Segment deutlich überlegen sein.

Über den Autor:

Mehr als 20 Jahre hat Alexander Stolte als Underwriter Risiken im Bereich Transportversicherung bewertet. Heute treibt er als IT- und Beratungsdienstleister die Digitalisierung in der Industrieversicherung voran. In seiner Kolumne berichtet er von den Erfahrungen dieses Perspektivwechsels.

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