Das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft IAO hatte gerufen und alle waren gekommen: Versicherer, Start-ups und Experten für Künstliche Intelligenz (KI).
Wie bei der Premiere 2017 bot das Teilnehmerfeld des zweiten Innovate Insurance-Forums am 19. und 20. Juni eine bunte Mischung aus Vordenkern innerhalb und außerhalb der Versicherungsbranche. Entsprechend vielfältig gestaltete sich die Themenagenda. Darin spiegelten sich sehr gut die unterschiedlichen Facetten der Digitalisierung wider. So bewegten sich manche Referenten in ihren Keynotes eher auf dem strategischen Makrolevel, während andere konkrete Projekte auf der Mikroebene vorstellten. Insofern waren die Voraussetzungen gut, um Impulse zu setzen, neue Ideen zu diskutieren und Praxiserfahrungen auszutauschen.
Getreu dem Titel „Mit KI und Start-up-Spirit neue Wege beschreiten“ gehörte die Begegnung zwischen Assekuranzvertretern und jungen Firmengründern zu den elementaren Bestandteilen der Veranstaltung in Stuttgart. Der Auftakt am 19. Juni stand daher ganz im Zeichen der Start-up-Präsentationen sowie der Keynotes und Podiumsdiskussionen zu den Themen KI und digitale Transformation. Der zweite Tag bot den rund 90 Teilnehmern die Möglichkeit, Innovationsmethoden in Seminaren praktisch zu vertiefen. Im Folgenden gebe ich meine Eindrücke von einigen Vorträgen des ersten Tages wieder.
KI und Co. für die Arbeit der Zukunft: Beispiele aus dem “Fraunhofer Innovationsnetzwerk Digitalisierung für Versicherungen”
Die Einleitung übernahm Institutsdirektor Thomas Renner. In seinem Vortrag stellte er die vier Fokusfelder zum Thema KI vor, mit denen sich das „Fraunhofer Innovationsnetzwerk Digitalisierung für Versicherungen“ beschäftigt.
1. Process Mining und Entscheidungsalgorithmen mit KI
2. Textverstehen 4.0 – KI für standardisierte Datenextraktion und Intentionserkennung
3. Digitale Assistenten für Experten
4. KI für Betrugserkennung
Wie die Forschungen des Instituts zeigen, können KI-basierte Algorithmen gerade in der Schadenregulierung zu besseren Entscheidungen führen. Auch im Kundenservice und im Vertrieb ergeben sich sinnvolle Einsatzmöglichkeiten für KI. So eignen sich etwa Chatbots als digitale Assistenten dazu, Informationen für Sachbearbeiter und Fachexperten schneller bereitzustellen. Damit optimiert eine Versicherung die Beratung von Kunden und Vertriebspartner. Als eigenes Projekt hat das Fraunhofer-Institut innerhalb von zwei Tagen einen Chatbot für Schadenmeldung und Jahresbeitragsrechnung gebaut und diesen in Messenger-Dienste integriert. Dabei gab es folgende Learnings:
- Wichtig ist, einen Datenvorrat für das Selbstlernen anzulegen.
- Für ein gutes „Dialogdesign“ ist spezielles Know-how nötig. Die bisher vorhandenen Tools sind stark verbesserungsbedürftig.
- In der Interaktion ist Transparenz und die richtige Ansprache des Nutzers ausschlaggebend.
Digital Insurance! Zukünftige Kundenerwartungen und Handlungsfelder!
Dass KI die Versicherungsbranche nachhaltig verändern wird, bestätigt nach Renner auch Dr. Jochen Tenbieg, Head of Global Insurance Processes bei der Allianz SE. Schließlich ist das Geschäftsmodell der Assekuranzen von Natur aus digital (Daten, Datenanalyse, Risikotransfer gegen Entgelt) und KI findet in allen Geschäftsbereichen eine entsprechende Anwendung (Risikobewertung und Tarifierung, Vertrieb und Marketing, Vertrags- und Schadenservice, interne Prozesse und Automatisierung).
Für ihn stellt sich vielmehr die Frage, ob „Digital Insurance“ wirklich die Lösung ist – vor allem hinsichtlich isder Kundenerwartungen im digitalen Zeitalter.
- KI ist zwar ein Hype, allerdings ist das Tempo der technologischen Entwicklung nicht zu unterschätzen. Denn die Technologie entwickelt sich schneller als die Geschwindigkeit, in der Kunden neue digitale Lösungen adoptieren.
- Da Menschen digitale Versicherungsangebote unterschiedlich rasch annehmen, nimmt die Bandbreite der Kundensegmente zu.
- Versicherer müssen daher analoge und digitale Produkte und Services anbieten, um Kundenerwartungen zu erfüllen. Zu vertretbaren Kosten geht das nur, wenn alle Hebel der Digitalisierung – insbesondere KI – gezielt genutzt werden.
- Versicherungen brauchen Daten für KI-Anwendungen Allerdings besteht Nachholbedarf bezüglich Datenzugang, Datenmenge, Datenqualität- und verarbeitung.
- Zudem bremsen die Natur des Versicherungswesens (unattraktives Produkt) und menschliche Verhaltensänderungen die digitale Transformation.
- Bei digitalen Versichern fehlt es häufig noch an der Usability beim Versicherungsabschluss. Man muss nicht weniger Informationen als zuvor eingeben, um eine Police abzuschließen (z.B. KFZ-Versicherung).
Was Tenbieg Sorgen bereitet, sind die Pläne von Amazon, in das Versicherungsgeschäft einzusteigen. Da Amazon das Zeug dazu hat, die Kundenschnittstelle zu besetzen (starker Vertriebskanal) droht eine gewaltige Konkurrenz. Letztlich kommt es aber darauf an, welche Policen angeboten werden und in welchen Ländern (in Deutschland stark regulierter Markt).
Retrospektive – Einführung der Watson-Software im Unternehmen. Der Praxisbericht einer produktiven Einführung in einem Versicherungsunternehmen
Direkt auf die Unternehmensebene ging es im nächsten Vortrag von Roland Schachtschabel. Der Geschäftsführer von Inverso GmbH, einer Tochtergesellschaft der Versicherungskammer Bayern (VKB), berichtete über die Einführung von IBM Watson. Dabei handelt es sich um eine KI-Plattform die Antworten auf Fragen in natürlicher Sprache geben kann. Watson analysiert Datenmengen, etwa unstrukturierten Text, Bilder oder Audio- und Videodaten und lernt so kontinuierlich dazu.
- VKB hat Watson bei zwei UseCases erfolgreich im Einsatz. Ziel der Einführung war die Entlastung der Kundenbetreuung. Bei der VKB beantworteten zuvor rund 1.000 Sacharbeiter Kundenanfragen weitgehend noch manuell.
- UseCase 1 „Unmut“: Watson analysiert den Inhalt eines Kundenschreibens nach einer Unmutsäußerung, d.h. einer Beschwerde und zeigt sie automatisch dem verantwortlichen Sachbearbeiter in der Sachbearbeiter Infrastruktur an (SBI) an.
- Seit Februar 2015 hat Watson rund 50.000 manuell klassifizierte Dokumente analysiert. Am Anfang “fütterte” ein Team von fünf Leuten Watson mit Daten. So lernt die KI bis heute ständig hinzu zu. Die Erkennungsquote von „Unmut“ liegt bei 75 Prozent, d.h. die Beurteilung ist in den meisten Fällen korrekt.
- UseCase 2 „Angebotswunsch“: Watson analysiert zusätzlich, ob ein Kundenschreiben einen Angebotswunsch enthält. Trifft das zu, trennt die KI-Software diesen Fall aus dem Gesamtvorgang automatisch heraus und übermittelt ihn an die SBI. Wird der Angebotswunsch vom zuständige Sachbearbeiter verifiziert, geht er innerhalb von 24 Stunde an den Vertrieb. Die Erkennungsquote liegt bei 42 Prozent.
- Watson erkennt auch passive Angebotswünsche in Kundenschreiben, etwa durch darin geäußerte neue Lebenssituationen. Daraus entsteht potentiell ein veränderter Versicherungsbedarf. So hat der Vertrieb einen neuen Anlass für die Kundenansprache.
- Nach den erfolgreichen UseCases ist Watson seit 2016 im Regelbetrieb. Die kontinuierliche Steigerung der Erkennungsquoten schafft einen deutlichen Mehrwert für Kunden und Vertriebspartner.
Zwei ganz andere Perspektiven auf die digitale Transformation boten anschließend Stephan Weiss, Digital Enthusiast bei der Generali Versicherung, und Simon Nörtersheuser, Gründer und Geschäftsführer der Policen Direkt GmbH.
“Live the community”: Wie Mitarbeiter Innnovation begeistert mitgestalten
So zeigte Weiss in seinem Vortrag „Live the Community“, wie das Thema Digitalisierung auch innerhalb einer Versicherung erlebbar wird – und dabei sogar Spaß macht. Denn die eigenen Mitarbeiter bieten einen unerschöpflichen Fundus an Ideen und Konzepte, die zum Innovationsprozess beitragen.
- Communities und Teams, die disziplin-, aufgaben-, bereichs- und unternehmensübergreifend aktiv sind, erleichtern die Umsetzung von Neuerungen.
- Die Generali bietet vielfältige Formate zur Mitgestaltung an. So gibt es Themenfelder wie den Trendradar Technologie (Identifizierung von Tech-Trends) oder eine Ideas-Box (Innovation und Sponshorship für Ideen), über die es zur Vernetzung und Austausch mit nationalen und internationalen Gremien und Communities kommt.
- Im Fokus steht das interne Wiki als zentraler Anlaufpunkt für alle Aktivitäten und Formate. Hier werden Berichte, Videos oder Umfragen veröffentlicht. Im Monat gibt es mindestens vier neue Beiträge. Persönliche Meinungen und kritische Diskussionen sind erwünscht; es darf dort jeder publizieren. Kooperation, Mut und Enthusiasmus sind gefragtö
- Beispiel für erfolgreiches Community-Format: Hackathons, die eine ideale Umgebung bieten, um innovative Ideen lebendig werden zu lassen und Kunden einzubinden.
- Wichtig für die Umsetzung: Mitarbeiter in den Vordergrund stellen, Freiräume schaffen sowie unterschiedliche Formate, Kommunikationsformen und Medien etablieren und vernetzen. So etabliert sich eine nachhaltige und transparente Community-Arbeit.
Start-ups in der Finanzierungslücke: Learnings aus 15 Jahren »Insurance, Technology and Start-up-Culture'”
Nörtersheuser fokussierte sich in seiner Keynote auf die Start-ups in der Versicherungsbranche (Insurtechs). Dabei konnte der Experte quasi „aus dem Nähkästchen“ plaudern, denn mit seiner Firma Policen Direkt unterstützt er Startups wie Gewerbeversicherung24 und Covomo.
- Start-ups brauchen einen langen Atem. Auch, wenn die Erstfinanzierung gelingt, reicht das nicht langfristig für eine solide finanzielle Basis aus. Viele Startups tut sich mit der Folgefinanzierung schwer.
Ein Start-up braucht sieben Jahre, bis es erfolgreich ist!” (Simon Nörtersheuser)
- Stephan Weiss, Innovate Insurance
- Insurtechs haben einen wichtigen Strukturwandel in der Branche angestoßen; der Gründungsboom hält weltweit an. Die meisten Startups fokussieren sich auf den Vertrieb von Versicherungen.
- Deutsche Insurtechs sind international auf dem Vormarsch, hinken aber bei der Kapitalausstattung ihren Pendants aus den USA weit hinterher (Platz 1 Oscar mit .
- Insurtechs setzen heute weniger auf Konfrontation, sondern auf Kooperation. Die Gründe: Kapitalschwund und daher Bedarf an einem finanzkräftigen Partner. Zudem haben sich viele Insurtechs nur auf Digitalvertrieb konzentriert und unterschätzt, wie wichtig die klassischen Vertriebskanäle sind. Bei Versicherungen handelt es sich eben nicht um ein Konsumgut, das man wie Schuhe verkaufen kann.
- Versicherer und Rückversicherer agieren mittlerweile risikofreudiger als früher, was sich in den Kooperationen mit Startups oder eigenen innovativen Lösungen ausdrückt.
- Aktuell Boom von digitalen Versicherern, die gezielt auf eigene Plattformen für ihr Business setzen. Neu sind digitale Assekuradeure, die Nischenprodukte anbieten wie z.B. Kurzzeitversicherungen. Häufig gehören klassische Versicherer zu den Investorev. Ob sich die Assekuradeure dauerhaft etablieren können, ist fraglich (Nischenprodukte).
In den Podiumsdiskussion gingen die Experten nochmal auf die Themen Transformation und Datengewinnung ein.
- Innovation ist für große Versicherer einfacher, da sie mehr „Bälle ins Spiel bringen können“ (Schachtschabel). Allerdings dauert es aufgrund der komplexen und verästelten Unternehmensstrukturen viel länger, bis Prozesse umgesetzt sin
- Die Datenerfassung ist ein zentrales Thema der Digitalisierung, aber auch für den KI-Einsatz („Trainieren derr KI“). Jede Versicherung müsste die Position einen “zentralen „Datenmanager“ (Tenbieg) schaffen, der den Prozess der Datenerhebung kontrolliert und die Datenqualität sicherstellt.
- Gleichzeitig muss die Datenerfassung gesetzeskonform geschehen. Hier sind die Versicherungen in der Verantwortung.
- Die Macht der Vergleichsportale wird weiter zunehmen. Der Erfolg von Check24 & Co. hat dazu geführt, dass die Kunden kritischer geworden sind. In fünf bis zehn Jahren ist wohl „jede Versicherung vergleichbar“ (Nörtershäuser) – auch Industrieversicherungen. Denn um sich von der Konkurrenz abzuheben, könnte eine erfolgreiche Strategie sein, Versicherungen anzubieten, die nicht mehr vergleichbar sind, da neue Vergleichsparameter relevant werden (kurze Laufzeit, höherer Selbstbehalt etc.).
- Eine Monopolisierung des Geschäfts ist trotz der Pläne von Amazon unwahrscheinlich. Stattdessen weitere Differenzierung der Angebote und Vertriebskanäle.
- Um digitale Transformation erfolgreich umzusetzen, müssen interne Abteilungen zusammenarbeiten und das Silo-Denken einstellen.
Die Liste der Aussteller (Start-ups):
- 5Analytics GmbH (KI-Plattform für Routineaufgaben)
- BANKSapi GmbH (Intelligente Aufbereitung von Kontodaten)
- K4A Systems GmbH (Plattform für digitale Sachbearbeitung)
- Nect GmbH (Intelligentes Identitätsmanagement)
- Pair Finance GmbH (Datenbasiertes Forderungsmanagement)
- Smoope GmbH (Messaging as a Service)
- Terraloupe GmbH (Intelligente Analyse Geodaten)
Bildquelle: Eigene Aufnahmen
Header-Bild: © Fraunhofer-Insitut
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